Gemeint sind damit in erster Linie Reformen, welche sehr reiche und sehr gut
verdienende Menschen entlasten. Immer wieder wird das Märchen erzählt, diese
Menschen würden ohne steuerliche Entlastung den Kanton verlassen. In die Lücke
springen müsste dann der vielbeschworene Mittelstand. Auch vor den beiden
Unternehmenssteuerreformen und der Vermögensteuerreform wurde behauptet, dadurch
würden Unternehmen und reiche Menschen angelockt und sich im Kanton niederlassen.
Weder das eine noch das andere ist bis heute passiert.
Es ist doch sehr erstaunlich, wie vor allem Mitglieder des Freisinns in der Öffentlichkeit frei
heraus sagen, es sei anzustreben, dass der Staat möglichst wenig Steuern bekommt und
reiche Menschen möglichst viel für sich behalten können. Der Freisinn stellte 1848 die
ersten sieben Bundesräte. Vor 176 Jahren haben diese freisinnigen Politiker staatstragend
und massgeblich dazu beigetragen, die moderne Schweiz mit der in wesentlichen Zügen
heute noch gültigen Verfassung zu gründen. Die Grundidee war, dass der Staat
Leistungen für alle Menschen erbringt und die Menschen solidarisch nach ihrer
Leistungsfähigkeit dem Staat dafür die Mittel in Form von Steuern geben. Dieses
Staatsverständnis scheint immer mehr durch eine egoistische Haltung verdrängt zu
werden: Möglichst viel für sich selbst, möglichst wenig oder gar nichts für alle, also für den
Staat. Trotzdem besteht der Anspruch, dass der Staat in wesentlichen Bereichen wie
Sicherheit, Bildung und Verkehr nur das Beste bieten muss. Es soll einfach möglichst
nichts kosten. Das ist, wie wenn jemand die Leistungen eines Fünfsterne-Hotels beziehen
möchte, dafür aber nur den Preis einer Jugendherberge bezahlen will. Die Werte des
Freisinns scheinen sich grundlegend gewandelt zu haben.
Ein weiteres Märchen besteht darin, dass immer wieder behauptet wird, viele Menschen
würden gar keine Steuern bezahlen. Das stimmt lediglich in Bezug auf die direkten
Steuern für Alleinstehende und Familien mit sehr wenig Einkommen. Das ist nach dem
Grundsatz der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit richtig. Alle
Menschen, und damit auch diejenigen, die keine direkten Steuern bezahlen müssen oder
können, zahlen indirekte Steuern wie zum Beispiel Mehrwertsteuern, Mineralölsteuern
oder Strassenverkehrssteuern. Allgemeinplätze, viele Menschen würden keine Steuern
bezahlen, sind also schlicht falsch.
Alt Bundesrat Otto Stich sagte einmal, dass er gerne Steuern bezahle. Das sei ein
Zeichen dafür, dass es ihm gut gehe. Wenn er keine Steuern bezahlen könnte, müsste er
sich Sorgen machen. Ich habe diesbezüglich die gleiche Einstellung wie Otto Stich. Und
schliesslich bietet der Staat mit Hilfe der Steuereinahmen sehr viel Gutes für alle
Menschen. Das müssen wir unbedingt erhalten.
Ernst Schürch, Landrat, SP Gelterkinden
Erstmals erschienen in der Volksstimme vom 19. Januar 2024.