“Seid Menschen”

Dieser Text ist als Kolumne bei der Volksstimme erschienen.

In der heutigen Zeit überschlagen sich die Ereignisse immer rascher. Eine schlimme Nachricht jagt die nächste. Und nun Blatten. Diese Jahrtausendkatastrophe trifft uns alle mitten ins Herz. Hunderte Personen haben auf einen Schlag ihr Zuhause verloren. Und damit ihre Erinnerungen, ihren Alltag, ihr Fundament, ihre Existenz. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes heimatlos. Und wir leiden alle mit ihnen.

Denn die Katastrophe von Blatten zeigt uns allen unsere eigene Verletzlichkeit. Während Meldungen von Naturkatastrophen normalerweise aus weiter Ferne kommen, rücken apokalyptische Bilder allmählich immer näher. Das macht Angst. Doch es löst bei uns auch viel Mitgefühl aus. Das ist wichtiger denn je. Denn in einer Welt voller Katastrophen und Kriege, in der über 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind, ist das unsere grösste Pflicht: Menschlich und verletzlich zu bleiben, Mitgefühl zu empfinden. Und ob all der schlimmen Nachrichten nicht abzustumpfen.

Das gilt insbesondere für den schrecklichen Krieg im Gaza-Streifen. Als Mensch können uns die Bilder aus Gaza nicht kalt lassen. Derzeit sind rund 14’000 Babys akut vom Hungertot bedroht. Zehntausende sind bereits gestorben. Ganze Wohnquartiere, Spitäler und Schulen wurden zerstört. Das Blutvergiessen und das Aushungern der gesamten Zivilbevölkerung vor der Weltöffentlichkeit müssen endlich ein Ende haben. Die offizielle Schweiz steht in der Pflicht, aktiv zu werden. Das fordern im Übrigen auch 55 ehemalige EDA-Diplomatinnen und Diplomaten in einem offenen Brief an Aussenminister Cassis. In kürzester Zeit haben über 130’000 Menschen einen entsprechenden Appell der SP unterzeichnet. 

Ich persönlich habe meine eigene Verletzlichkeit in den letzten Wochen nochmals neu kennengelernt. Anfang April bin ich Mutter geworden. Mit der Geburt meiner Tochter fühlte ich in aller Klarheit die Verantwortung, die ich und mein Partner nun für sie tragen. Damit einher entstehen ganz neue Gefühle und Ängste, die alle kennen, die selbst Eltern sind.

Natürlich schaue ich die Welt nun mit anderen Augen an. Reden wir über den Klimaschutz, ist das nicht nur eine politische Forderung, sondern wird zur ganz persönlichen Angelegenheit. Geht es um die Gleichstellung der Frauen und den Schutz vor Gewalt, sehe ich meine Tochter vor mir. Und wenn gesagt wird, dass der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub zu kurz ist, dann kann ich das jetzt aus eigener Erfahrung bestätigen. Während in meiner Kindheit Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit war, wurde diese Gewissheit für die nächste Generation zerstört.

Auf die Katastrophen unserer Zeit müssen wir Antworten finden. Unsere eigene Verletzlichkeit muss uns dabei leiten. Sie sollte uns helfen, dabei die Menschenwürde zu wahren. Denn darum geht es schliesslich: Um nichts weniger als die Verteidigung der Menschenrechte und damit um die grösste zivilisatorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Härte, Hass und Spaltung laufen dem zuwider. Sie zerstören das, was uns als Menschen ausmacht. Die kürzlich verstorbene Holocaust-Überlebende Margot Friedländer hat uns eindringlich aufgefordert: «Seid Menschen».

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