Der Schutz der Menschenrechte ist Regierungspflicht

Gastkommentar in der bz vom 26.11.2015, Thema Bundesratswahl:

Inzwischen ist es in unserem Land nicht mehr entscheidend, wie man die Konkordanzregierung auf der Stufe der Eidgenossenschaft begründet. Zwar gibt es verschiedene Modelle dafür: So kann man das rein arithmetisch tun und die Proporzanteile der Nationalratswahlen heranziehen. Man kann die Sitzstärken der Parteien in der Bundesversammlung heranziehen oder einfach nur festlegen, dass die vier stärksten Parteien die schweizerische Mehrparteienregierung bilden sollen. Doch unabhängig davon, wie man es begründet und berechnet: die Rechnerei gibt heute keine Antwort mehr auf die neue Frage, ob und wie man rechtspopulistische Strömungen in den Bundesrat einbinden soll.

Thematische Konflikte sind Teil der Konkordanzregierung
Die Arithmetik war noch nie entscheidend für die Konkordanz und ein gutes Funktionieren des Bundesrates. Es ist offensichtlich, dass in einer Mehrparteienregierung immer auch thematische Konflikte bestehen. Und es kann auch festgestellt werden, dass die Gemeinsamkeiten unserer Konkordanzregierung im Zuge wachsender parteipolitischer Polarisierungen etwas geschwunden sind. Thematische Konflikte sind aktuell u.a. die Frage nach der Grösse und Bedeutung der militärischen Verteidigung oder die Fragen nach der Abgrenzung oder Integration von Migrantinnen und Migranten in unserem Lebensmilieu. Beispielhaft kann auch der thematische Konflikt betreffend der Energiesicherheit für unser Land herangezogen werden und die damit verbundene Nutzungsfrage der Atomenergie. Nie haben und werden die Parteien im Bundesrat in allen politischen Fragen einen Konsens herstellen können.
Was es jedoch lange Jahre gab, war ein Grundkonsens im Demokratie-, Menschenrechts- und Staatsverständnis. Das war die Stärke der schweizerischen Konkordanzregierung: Thematisch nicht immer gleicher Meinung, aber im Grundverständnis unseres Staatswesens einig.

Menschenrechtsschutz bleibt Regierungspflicht in der freiheitlichen Demokratie
Darum stehen wir mit unserem Mehrparteien-Bundesrat heute auch nicht vor einem thematischen Konflikt, sondern vor einer Grundsatzfrage: Kann eine Partei stärker in die Regierungsarbeit eingebunden werden, wenn sie die Europäische Menschrechtskonvention kündigen möchte, wenn sie das Initiativrecht als gesetzgeberisches Durchsetzungsrecht (Durchsetzungsinitiative) versteht oder wenn sie Wahlfreiheit der Bundesversammlung dahingehend einschränkt, dass gewählte Personen aus der Partei ausgeschlossen würden, wenn sie nicht von der Partei zur Wahl vorgeschlagen worden sind?

Das sind alles keine thematischen Konflikte, sondern es sind deutliche Absagen gegen die Grundwerte der Schweizer Verfassung, gegen die Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie. Darum muss man auch grundsätzlich antworten: Wer in der Regierung der Schweiz langfristig eine Rolle spielen will, muss sich zur Europäischen Menschenrechtskonvention bekennen. Man muss nicht jedes Urteil des Gerichtshofes als richtig empfinden, aber zum Erhalt der langen Tradition der konsensualen Demokratie in unserem Land gehört der Konsens unter allen Regierungsparteien, dass der Schutz der Menschenrechte die wichtigste Regierungspflicht ist. Wer das als Partei nicht verteidigen will, kann nicht stärker in die Regierungsarbeit eingebunden werden. 

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