Krieg in Europa und Neutralität

Die europäischen Grossmächte haben am Wiener Kongresses 1815 mit dem Staatenbund der Schweiz eine dauerhafte und bewaffnete Neutralität vereinbart. Damit wurde ein Puffer zwischen den Grossmächten geschaffen, der nach den Kriegen mit dem revolutionären Frankreich und Napoleon zum Gleichgewicht und zum Frieden in Europa beitragen sollte. Auch wurde dem ausufernden Söldnerwesen und der unberechenbaren Parteinahme einzelner Kantone ein Ende gesetzt. Die Neutralität sollte die Schweiz berechenbar und stabil machen.

Nach dem Sonderbundskrieg und der Gründung des Bundesstaates 1848 wurde das Prinzip der bewaffneten Neutralität in die neugeschaffene Bundesverfassung übernommen. Darin ist unter anderem festgehalten, dass sich der Bund für die Wahrung der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Schweiz und zugleich für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung einzusetzen hat. Der Bund hat auch zur Linderung von Not und Armut, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie beizutragen. Als Grundlage unseres rechtstaatlichen Handels wird ausdrücklich das internationale Völkerrecht genannt.

Mit der Invasion in die Ukraine hat Russland vor drei Wochen das Völkerrecht gebrochen. Menschenrechte und Demokratie werden mit Füssen getreten. Tausende sind bereits ums Leben gekommen, Millionen müssen flüchten, Städte und Infrastruktur in der Ukraine werden verwüstet. Putin und seine Führungsriege führen einen grausamen Krieg gegen die Ukraine und gleichzeitig eine beispielslose Desinformationskampagne in Russland. Protestierende werden niedergeknüppelt und inhaftiert.

In diesen schrecklichen Tagen haben wir als Land und als Einzelpersonen klar und deutlich Stellung zu beziehen. Wir müssen die Geflüchteten, die Opfer in der Ukraine und die Unterdrückten in Russland tatkräftig unterstützen. Sehr viele Menschen in der Schweiz sind dazu bereit und nehmen vergleichsweise kleine Nachteile wie zum Beispiel höhere Benzinpreise in Kauf. Viele haben gespendet und nehmen Geflüchtete bei sich auf.

Ich stehe zur bewaffneten Neutralität und habe als Infanterieoffizier meinen Teil dazu beigetragen. Wir müssen mit den geeigneten Mitteln zur Verteidigung unseres Landes bereit sein. Lange vor einer militärischen Auseinandersetzung müssen wir aber auch im Sinne der Bundesverfassung aktiv daran mitwirken, dass gar keine Kriege entstehen. Wir dürfen uns nicht mehr hinter der Neutralität verstecken und gleichzeitig Grossbanken und Konzernen ermöglichen, dreckiges Geld von Diktatoren zu horten und Milliarden mit dubiosem und umweltschädlichem Rohstoffhandel zu verdienen. Wir haben seit der Machtergreifung der Nazis vor knapp neunzig Jahren immer wieder mit Diktaturen kollaboriert und von ihnen profitiert. Die Schweiz muss sich aktiv dafür einsetzen, nicht mehr Kriegs- und Krisengewinnler, Versteck für illegales Geld und Helfer für Steuerhinterziehung zu sein. Dazu müssen wir eine umfassende Diskussion über unsere Neutralität führen und die gesetzlichen Grundlagen anpassen. Unter dem Strich geht es um die Frage, ob wir Menschenrechte, Frieden und Menschlichkeit höher gewichten als Geld.

Ernst Schürch, Carte Blanche, Volksstimme vom 17.03.2022

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